Neusser sammeln allerlei
Mit der „Neusser Wunderkammer“ sollte anlässlich des 100. Geburtstags des Clemens-Sels-Museums Neuss an ein Sammlungskonzept aus der Frühzeit der Museumsgeschichte erinnert werden: Die in der Spätrenaissance und im Barock vorherrschenden Kunst- und Wunderkammern erwuchsen der großen, von der Entdeckung Amerikas inspirierten Begeisterung für das Unbekannte und Fremdartige. Sie präsentierten Objekte unterschiedlichster Herkunft, Bedeutung und Bestimmung als ein Theatrum Mundi, ein Abbild der Welt im Kleinen. Die meist fürstlichen Eigentümer dieser Sammlungen bewiesen auf diese Weise nicht nur Bildung und Geschmack, sondern erlangten auch symbolisch den Status von „Weltherrschern“. Zu den bekanntesten Kunst- und Wunderkammern zählen die 1563 bis 1567 entstandene Münchener Kunstkammer von Herzog Albrecht V. von Bayern (Teile dieser Sammlung befinden sich heute auf Burg Trausnitz in Landshut), die Kunstkammer des Erzherzogs Ferdinand von Tirol auf dem 1573 eigens als Museumsbau errichteten Schloss Ambras bei Innsbruck, die Prager Kunstkammer Kaiser Rudolfs II. 1607 bis 1611 und das grüne Gewölbe in Dresden, die 1723 bis 1730 eingerichtete Schatzkammer des sächsischen Kurfürsten August der Starke.
Idealtypisch für diese fürstlichen Kunstkabinette war die Gliederung der Sammlung in Naturalia, Artificialia, Scientifica und Exotica: Zu den Naturalia zählten neben Mineralien, Muscheln, Tier- und Pflanzenpräparaten auch antike Kunstwerke, da sie ähnlich wie Fossilien aus der Erde geborgen wurden. Als Artificialia galten Gemälde, Skulpturen und alle Formen kunstgewerblicher Veredelung von natürlichen Rohstoffen wie beispielsweise Silber- und Gold-Schmiedearbeiten, Porzellan oder Elfenbeinschnitzereien. Musikinstrumente, Messinstrumente der Zeit und des Raums, mechanische Automaten und Weltkugeln umfasste der Bereich der Scientifica, während Artefakte aus Ostasien und Amerika zu den Exotica zählten.
Geistesgeschichtlich steht das museale Konzept der Kunst- und Wunderkammer nicht nur in einer christlich-abendländischen Tradition, sondern auch an der Schwelle zur Aufklärung. Die Vorstellung einer durch die genaue Betrachtung vermittelten Erkenntnis des universalen Zusammenhangs aller Dinge ist Ausdruck einer Weltanschauung, in der die sinnlich erfahrbare Einheit von Geschichte, Kunst, Natur und Wissenschaft eine göttliche Ordnung der Welt belegt. Zugleich umfasst das Modell der Kunst- und Wunderkammer die unerschöpfliche und spielerische Wandelbarkeit der Naturformen und illustriert damit ein Phänomen, das zu den Grundlagen der Evolutionstheorie im 19. Jahrhundert zählt. Auch viele Künstler des 20. Jahrhunderts wie Pablo Picasso, Marcel Duchamp, Max Ernst, Francis Bacon und Joseph Beuys machten aus ihren Ateliers Wunderkammern en miniature, Sammelsurien gefundener Artefakte und Naturalien, um sich auf spielerische Weise von der assoziativen Vielfalt ihrer Formen inspirieren zu lassen.