József Rippl-Rónai (1861 – 1927)
Schon in der Antike gilt das Lesen als ein Zeichen von hoher Bildung. Das gedankliche Eintauchen in die eigene Vorstellungswelt, die das Lesen ermöglicht, verstärkt sich als Motiv ab dem 17. Jahrhundert, insbesondere bei dem Sujet der Briefe lesenden Frauen. Im Gemälde aus der Neusser Sammlung verstärkt sich der Ausdruck des Versunkenseins. Der ungarische Maler József Rippl-Ronai, welcher der Gruppe der Nabis angehörte, stellt eine stehende Frau im Profil dar, die einen Brief in ihrer Hand hält. Die Augen sind geschlossen und ihr Gesicht wird von dem schwarzen Schleier ihres Huts verdeckt. Damit erscheint sie völlig von der Außenwelt abgewandt. Gerade dieses intime Zurückgeworfensein unterstreicht Rippl-Ronai durch die diffuse Lichtführung. Das angedeutete Fenster ist mit einer Gardine verhängt, und die vor der Frau stehende Leuchte wirft das grünlich gefärbte Licht durch den Schleier hindurch auf ihr Gesicht. Durch fließende Farbübergänge schafft der Künstler eine fragile Stimmung, die meisterlich auf das Motiv der Tagträumerin abgestimmt ist. Der diffizile Einsatz der Farbe charakterisiert vor allem seine von ihm bezeichneten „schwarzen Bilder“, zu denen dieses Gemälde zählt.